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18.9.06

Steingart und die Chinesen

Das Telefon klingelt. Die Redaktion.
"Herr Steingart, haben Sie unsere E-Mail bekommen?"
"Mail, äh, ah so, den Brief? Ne, der Postbote war heute noch nicht da."

Nein die E-Mail, die kommt nicht per Postbote.“ „Ach wirklich nicht? Jaja, die Chinesen. Der gute alte Postbote war eben zu teuer, nicht? So weit sind wir gekommen, dass sie die Post aus China hierher schaffen, weil das billiger ist. Mist, da hätte drüber schreiben können. Aber OK, das kann schon mal sein, dass so ein Brief dann etwas länger dauert von China aus.“ In dem Moment kommt Frau Blumencron, Steingarts Sekretärin herein und legt ihm die E-Mail als Ausdruck auf den Schreibtisch.

Ah da ist sie. Habe sie soeben rein bekommen. Verdammt flink diese Chinesen.
Steingart legt auf. Gerade war er noch bei der Druckabnahme seines neuen Buches. Er überprüfte das Layout, die Bilder die Farben. Es schien alles ok zu sein, aber er wollte dennoch ein paar Details mit dem Setzer besprechen.
"Es gibt keinen Setzer mehr hier. Schon seit Jahren. Wir arbeiten in der ganzen Druckerei nur noch mit drei Angestellten. Vor fünf Jahren waren wir noch 15. Vor zehn waren es 30."
Hm, die sind wohl auch alle nach China ausgelagert, dachte Steingart bei sich. Jaja, die Chinesen, die darf man nicht unterschätzen.
Steingart war guter Dinge, das Buch MUSSTE ein Erfolg werden. Er hatte natürlich im Vorfeld klargemacht, dass der Spiegel dafür aus vollen Rohren aus den PR-Kanonen feuern musste. Sein Freund Aust sagte ihm, er hätte da die beste aller Möglichkeiten. Spiegel Online: "Das ist kostengünstig, effizient und erreicht eine ganze Menge Leser. Kostet uns fast gar nix." "Ah, ein chinesisches Angebot?", hatte Steingart geantwortet. "Neinnein," widersprach Aust, "Online". Steingart war verblüfft. Kann man also doch auch in Deutschland effizient arbeiten, wenn man denn die Mitarbeiter "online", also an der kurzen Leine führte?
Aber heute hatte er diesen Gedanken wieder verdrängt. Heute würden Teile seines Buches an der kurzen Leine des Spiegels veröffentlicht und dafür musste er extra nach Hamburg fahren. Er rief Frau Blumencron. "Fahren sie doch bitte zum Bahnhof und reservieren Sie ein Platz erster Klasse nach Hamburg."
"Aber Herr Steingart, das kann ich schnell eben online machen. Da brauche ich nicht mal mit einem Bahnangestellten sprechen."
"Auch die Bahn also", dachte Steingart. Hatte er etwas verpasst? Gibt es seit neustem eine Managementmethode, die auch Deutschland zu effizienten Strukturen verhilft?
"Frau Blumencron, warten Sie bitte noch kurz. Was genau heißt „online?“"
"Nun, wenn man etwas online macht, dann geht das ganz fix und das Unternehmen braucht dafür keine Mitarbeiter beschäftigen, weil das ja alles automatisch funktioniert."
"Automatisch" hätte Frau Blumencron besser nicht gesagt. Aber wie sollte Sie auch wissen, dass Steingart "Automatisch" für eine besonders produktive Region im Südwesten Chinas hielt?
"Soso", sagte Steingart, "in Automatisch. Jetzt wird mir einiges klar." Online wird wohl eine wichtige Stadt in Automatisch sein.
Steingarts Thesen begannen sich weiter zu festigen. Er musste mit seinem Freund Aust drüber sprechen. "Hallo Vermittlung? Fräulein, verbinden Sie mich bitte mir Herrn Aust, Stephan. SPIEGEL Hamburg" sprach er in den Hörer, nicht wissend, dass er - wie immer - nur bei Frau Blumencron gelandet war.
"Aber Herr Steingart, die Vermittlung und die Fräuleins der Vermittlung gibt es doch schon lange nicht mehr. Sie haben doch die Nummer von Herrn Aust doch im Telefon gespeichert. Drücken Sie einfach auf die Taste "Aust"."

"In China?"

"Was?"

"Äh, Automatisch?"

"Ja genau, automatisch."

Fünf Stunden später in Hamburg. Steingart fährt mit seinem Mietwagen auf die Auffahrt zum Parkdeck des Spiegelhochhauses. An der Schranke bleibt er stehen, öffnet das Fenster und hält seine Spiegel-Ausweiskarte gegen den Magnetleser. Früher standen hier zwei Pförtner. Einer kontrollierte, der andere richtete den Schlagbaum auf. Nachdem sich der Schlagbaum nun wie von Zauberhand öffnete, hatte Steingart sich angewöhnt "Xiantsching" in den Magnetleser zu sprechen, was "Danke" auf chinesisch heißt.

Steingart weiß, wie es um Deutschland bestellt ist. Er weiß, dass alle Arbeitsplätze, die hier verschwinden nur nach China ausgelagert werden. Er will also nur das Beste für sein Land, wenn er von uns fordert, ein wenig mehr wie die Chinesen zu werden. Ein wenig mehr wie zum Beispiel die chinesischen Bankangestellten, die seit Mitte der neunziger die Arbeit der Deutschen Banker einfach mitübernehmen, indem sie alles in "Automatisch" und in "Online" erledigen.
Er fordert auch ein wenig mehr wie die chinesischen Buchhändler zu werden, die die hier nicht kostengünstig abreitenden verdrängt haben. In China, bei Amazon, wo viele tausend chinesische Buchhändler sitzen und Bücher verkaufen, dort sprießt die Arbeit, weil sie ja auch nix kostet. Keine Rechte, kein Geld, kein gar nix. So ist das mit der Globalisierung.
Steingart fordert auch so zu werden, wie die unsichtbaren Chinesen in den Metro-Märkten, die mit RFID nicht nur die Ware abrechnen sondern gleich auch vom Konto abbuchen, so wie er es auf der großen Chinamesse „CeBit“ gesehen hat. RFID-Chinesen, die werden kommen und hier alles gehörig umkrempeln. Es wird keine deutschen Kassierer mehr geben.
Diese chinesischen Videothekautomaten, bei denen er seit sich neustem seine Filme holt, sind auch nicht schlecht. Den Job des Chinesen, der da drinsitzt, den will er zwar nicht haben, aber es ist ihm doch weit weniger peinlich bei ihm die Schmuddelfilme zu leihen, als es bei den nun arbeitslosen Videotheksangestellten der Fall gewesen ist.

Aber das ist ja alles nur der Anfang. Steingart weiß, dass in Fahrleitsystemen kleine Chinesen sitzen werden, die in nicht allzu ferner Zukunft alle deutschen überbezahlten Bus- und Bahnführer überflüssig machen werden. Und wer weiß, wie das alles in fünf Jahren aussieht. Die Chinesen sind dann schon überall.

Fortschritt heißt China. Und deshalb gehört China die Zukunft. Mit absoluter Vollbeschäftigung. Die haben es gut die Chinesen.