Hier draussen
Dort, vor den Toren der Stadt, da stehen sie. Mit Lanze und Helm verstellen sie den Weg. Sie wollen mich nicht durchlassen. Ich packe mein Notebook aus, direkt vor ihrer Nase und schreibe. So wie viele hier. Manche machen auch Musik, ein paar drehen Filme, einige Programmieren. Und während ich mich so umschaue, da merke ich es. Das warten ist nicht umsonst. In Nuancen deutet es sich an, es wird kommen, es kommt zu uns. Vielleicht ist es schon da, teilweise, mit einem Fuß in der Tür sozusagen. Das warten wird sich gelohnt haben.
Was verpasse ich schon in dieser Stadt, die sich selbst genug ist. Diese Stadt mit ihren immergleichen Phrasen und Floskeln. Mit ihrem Plastikpop und ihrer Duschvorhangsästhetik. Wo jede Ecke so glatt geschliffen ist, dass keinerlei Konturen mehr sichtbar sind. Das kann ja nicht mehr lange gut gehen.
Unser Zeltlager hier draußen entwickelt sich prächtig. Immer wieder kommen die Leute aus der Stadt heraus zu uns. Sie sind interessiert. Manche wollen danach gar nicht wieder zurück, schlagen ihr eigenes kleines Zelt auf. Argwöhnisch schauen einige von der Stadtmauer herüber.
Sicher, noch ist es recht karg hier draußen. Aber es finden sich immer wieder welche, die es schaffen einige Dinge, Musik oder Filme aus der Stadt zu schleusen, hier zu uns heraus, in die Freiheit. Damals ging das einfacher. Die Stadtwächter sind misstrauischer geworden, durchsuchen jeden zweiten. Wenn die Schmuggler erwischt werden, drohen ihnen nun harte Strafen. Aber ich bin zuversichtlich. Die Zeit arbeitet für uns. Bald werden genug Dinge hier draußen hergestellt werden, dass wir die Produkte aus der Stadt gar nicht mehr brauchen werden. Schon jetzt holen sich viele Leute aus der Stadt teilweise unsere Erzeugnisse, ganz einfach weil sie besser sind.
So richtig vermissen tut hier draußen kaum jemand die Stadt. Sie ist dem Untergang geweiht. Jeder hier weiß das. Die Anzeichen könnten deutlicher nicht sein: Die Mauern werden jeden Tag Stückchen höher gezogen. Aber hier draußen haben sich einige zusammengefunden, die das nur mehr als sportliche Herausforderung interpretieren. Keine Mauer wird hoch genug für sie sein. Der Sport besteht nur noch darin, wer der erste ist, der sie überwindet.
Nachts kann man die Stadt stöhnen hören. An allen Ecken und Enden quietscht und knarzt es. Die Stadtoberen geben häufig uns die Schuld dafür. Ab und zu wird auch schon mal jemand öffentlich ausgepeitscht. Ändern wird das nichts. Es sind nur die Zeichen ihrer Angst, die Angst derer, die dem Untergang geweiht sind.
Es ist laut hier. Klar, hier draußen wird oft geschrieen. Die da drinnen sollen es ja schließlich hören. Ein wenig ähneln wir den Trompeten von Jericho. Es macht Spaß, nach dem Aufwachen festzustellen, dass die Risse in den Mauern wieder ein Stück gewachsen sind. Dafür nimmt man die Lautstärke schon mal in kauf.
Und die Gatekeeper wirken jeden Tag verunsicherter. Manch einer versucht schon mal einen auf nett zu machen. Schleimt sich ein. Aber kaum jemand hier nimmt die noch ernst. Hinter unserem Rücken, im Schutz ihrer Mauern lästern die eh nur über uns. Sie können nicht begreifen, wie das gehen soll, so ganz ohne Mauern, ohne Gatekeeper. Sie sehen uns, aber sie begreifen es nicht.
Dabei ist das doch gar nicht so schwer: Statt einer Mauer haben wir Masse. Statt Gatekeepern haben wir eine Featurekultur. Bei all den unzähligen Leuten, die hier immer wieder über den Platz wandern, stolpert immer wieder jemand über etwas Interessantes. Jemand hebt es dann auf, andere weisen darauf hin, manche verbessern oder ergänzen es. So machen die Dinge hier die Runde. Manche Sachen schaffen es so nach ganz oben, vieles bleibt unten. Das meiste findet sich in der vertikalen Mitte. Hier, wo all die vielen verschiedenen speziellen Interessen bedient werden, gibt es immer Leute, die das dann ganz spannend finden. Und hier wird einfach alles bedient. Und jeden Tag wird es mehr. Das wichtigste dabei: Das Gute setzt sich immer durch. Und: Uns entgeht nichts.
Klar, hier ist zumeist alles irgendwie komisch selbstbezogen. Jeder schaut zum Nachbarn rüber, jeder versucht vom anderen zu lernen. Bei Diskussionen wird sich meist auf einander bezogen. Unser Liebligsthema? Wir. Aber das ist schon ok, wahrscheinlich sogar eher enorm wichtig.
Nein, es ist überlebenswichtig. Es ist jetzt schon alles so unglaublich komplex. Wir wachsen ernorm, es fällt immer schwerer die Übersicht zu behalten. Der Diskurs über uns selbst, ist das einzige, was diesen Wust noch in Schach halten kann.
Aber wir wissen es: Es wird kommen. Es entwickelt sich schon. Hier und da spürt man es. Man wird sich nur einigen müssen, immer wieder aufs Neue. So ist das eben mit einer Sprache, so ist das mit jeder Sprache. Konventionen entstehen einzig in ihrem Gebrauch. Aufmerksamen Beobachtern wird es nicht entgangen sein: Immer wieder entstehen neue „Tags“. Immer wieder entstehen neue Techniken des „Taggens“. Semantik und Syntaktik. Sicher, das alles ist noch sehr versprengt und gar nicht einheitlich aber bald schon ist es universell und allgegenwärtig. Es wird noch dauern, so was braucht seine Zeit, wir können warten. Aber wenn sie fertig ist, dann wird das eine mächtige Sprache werden. So laut, dass keine Mauer mehr stand halten wird.
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