Läuterung
Wenn man unter fremden Leuten sitzt ist jede Geste ein Statement. Man ist halt was man ist und sowieso besser als alle anderen. Jedenfalls wenn man wie ich während Bahnfahrten Foucault liest. Zuletzt: „Die Ordnung der Dinge“.
Die anderen machen auch irgendetwas, aber was interessiert es mich. Als intellektueller Zeitgenosse unter dem Pöbel all der Bildzeitungsleser und Bunte-Abonnenten ist Bahnfahren nur ein kurzer Ausflug ins Exil und so widmet man sich dem geistigen Zwiegespräch zwischen sich und sich und der Lektüre. Stunden kann man so vor sich hindämmern und das Kulturmassaker um sich herum ignorieren. Solange bis sich jemand direkt vor einen setzt.
Es ist ein Mädel, irgendwo Mecklenburg zugestiegen. Die schwarze Stretchhose zwischen Consultant-Seriösität und Volksfestschlampenerotik deklassiert sie sogleich als eine von denen. Die weiße Bluse hat Rüschchen und ist in die Hose gestopft. Die peinlich gepflegte Lockenmähne trägt sie offen. Irgendwo zwischen Tussi und Dorfliese, denk ich mir. Heißt Tina oder Mandy und arbeitet als Bäckerfachverkäuferin oder so. Sie kramt in ihrer rosa Lacklederhandtasche, holt ein Buch heraus und beginnt zu lesen. Immerhin kann sie lesen.
Ich versuche sie trotz der geographischen Nähe zu ignorieren, so wie die anderen auch. Das gelingt recht gut, bis zu dem Punkt, als sie mich plötzlich verschmitzt anlächelt. Was will die von mir? Sieht sie nicht dass ich was viel besseres bin als sie? Ich versenke mich tiefer in Foucault. So ein Buch ist doch ein tolles Schutzschild gegen ungewollte Sympathiebekundungen.
Eine Stunde vergeht auf diese Weise, wir sitzen uns gegenüber und lesen. Ich meinen Foucault, sie ihre Liebesschnulze oder whatever. Bestenfalls Harry Potter. Ich wage es nicht noch mal aufzublicken, was zugegeben ziemlich krampfig ist, aber wenigstens einigermaßen sicher.
Endlich steht sie auf, geht wohl aufs Klo und ich kann mich endlich wieder zurücklehnen. Gelangweilt schau ich mich um. Ihr Buch liegt auf dem Tischchen direkt vor mir. Mit eher anthropologischem Interesse beuge ich mich vor um dem Volk mal aufs MaulBuch zu schauen: „Überwachen und Strafen“ - von Foucault.
Als sie wiederkommt bin ich wieder ganz in meine Lektüre vertieft. Ich wage es immer noch nicht aufzuschauen. Diesmal aus Scham.
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